11.05.2020 / 1. A-Junioren (U 19)
Vor 50 Jahren herrschte Ausnahmezustand in Zehlendorf - doch unter völlig anderen Gesichtspunkten als heute. Zehlendorfs Regionalliga-Mannschaft war nach der "großen" Hertha das Aushängeschild Berlins. Sie hatte gerade den Berliner Meistertitel eindrucksvoll verteidigt und befand sich Ende Mai im Trainingslager. Trainiert wurde beim Berliner Fußballverband in Wannsee, gewohnt wurde im Forsthaus Paulsborn am Grunewaldsee unter profihaften Bedingungen, die der Erste Vorsitzende Otto Höhne mit seinem Stab ermöglicht hatte. Das erste Spiel der Aufstiegsrunde zur Bundesliga stand im Olympiastadion (!) gegen Kickers Offenbach vor der Tür.
Zeitgleich waren die A-Junioren in Berlin unter aus heutiger Sicht kuriosen Umständen von Sieg zu Sieg und damit zur Berliner Meisterschaft geeilt. Dabei waren sie noch im Jahr zuvor aus der Leistungsklasse abgestiegen und gehörten damit nicht mehr der obersten Spielklasse an. Doch der Austragungsmodus machte es möglich, dass sie sich als Staffelmeister (36-0 Punkte und 151:12 Tore!) für die Südkreismeisterschaft qualifizierten. Dort knüpften sie nahtlos an ihre bisherigen Leistungen an und qualifizieren sich als Südkreismeister mit 12-0 Punkten für das Finale gegen den Nordkreismeister. "Uli" Pfisterer, "Stolle" Stolzenburg, Peter Hanisch und Erwin Kunert ballerten jedes Wochenende aufs neue, dass es für die Zuschauer eine helle Freude war. Es war jene Zeit, in der zu den Spielen der Junioren noch einige hundert Zuschauer kamen. Der Gewinn der Südkreismeisterschaft war in erster Linie ihr Ziel, stiegen sie doch dadurch wieder in die Leistungsklasse auf. Nun standen die Spiele gegen den Nordkreismeister an. Und wo die Zehlendorfer gerade so schön im Rausch waren, machten sie gleich weiter: 7:0 gegen Nordkreismeister SCC. Klingt kompliziert, aber vereinfacht ausgedrückt: Der frisch gekürte Kreismeister und Aufsteiger forderte nun sogleich das beste Team der höchsten Spielklasse, den SC Wacker 04, zum Duell um die Berliner Meisterschaft.
In einer Hitzeschlacht gelingt es, einen 0:1-Rückstand noch zu drehen. In einer an Dramatik kaum zu überbietenden Partie setzt man sich mit 4:3 gegen die Reinickendorfer durch und holt sich als "Zweitligist" den Berliner Titel.
Wenige Wochen später fliegen die Jungen samt Anhang von Tempelhof nach Düsseldorf - das Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft wartet auf sie. Sie gehen als krasser Außenseiter in die Begegnung gegen die Eintracht aus Frankfurt. Diese hatte als Süddeutscher Meister so renommierte Mannschaften wie Kickers Offenbach, Bayern München, den 1. FC Nürnberg und den TSV 1860 München distanziert. Nach 80 hart umkämpften Minuten plus anschließender Verlängerung mit 2 x 10 Minuten sind immer noch keine Tore gefallen, so dass der Finalist vom Sonntag per Losentscheid ermittelt wird. Als sich aus dem Knäuel an Spielern, die um jenen DFB-Funktionär stehen, dem die bedauernswerte Aufgabe zufällt die Münze zu werfen, einige lösen und Freudentänze aufführen und diese das blaue Trikot tragen, ist klar: Die Münze ist aus Berliner Sicht richtig gefallen.
Die Zehlendorfer erfahren von ihrem Endspielgegner, als sie längst wieder in der Sportschule zurück sind. Das andere Halbfinale zwischen TuS Altrip und dem Gastgeber VfL Bochum, gleichzeitig auch Titelverteidiger, ist nach Aussagen aller Beobachter eine ganze Klasse besser als die Zehlendorfer Partie. So sind sich die siegreichen Altriper beim Abpfiff schon sicher, einen Tag später den Titel zu holen.
Im Finale läuft zunächst alles wunschgemäß für den "Dorfverein" vom Oberrhein. Wie ein Favorit eröffnet TuS Altrip das Endspiel und übernimmt sofort das Kommando. Ganze sieben Minuten dauert es nur, da liegen die Zehlendorfer auch schon zurück. Böhm hat getroffen und legt nach 18 Minuten gleich noch nach: 0:2! Ein umstrittener Freistoß, der zum 2:0 führt, hat indessen die Stimmung im Stadion kippen lassen. Die Sympathien der 7.000 Zuschauer gelten fortan den Berlinern. Und sie profitieren von einem schweren Torwartfehler ihres Gegners. Der hat einen harmlosen Ball bereits in den Händen, lässt ihn zum Entsetzen seiner Mitspieler aber wieder fallen. Erwin Kunert ist sofort zur Stelle: 1:2!! Die Zehlendorfer spielen nun ihr Spiel: Lange Bälle, meist von Peter Hanisch geschlagen, auf die schnellen "Pimpel" Winter und Kunert sowie den schussstarken Stolzenburg. Obwohl die Jungen noch die Verlängerung vom Vortag in den Knochen haben, gehört ihnen die zweite Halbzeit. Zwei Minuten sind nach dem Wechsel gerade gespielt als Stolzenburg das 2:2 gelingt - herrlich freigespielt von Winter. Hanisch ist inzwischen der herausragende Spieler, umsichtig und gewandt im Dribbling. Als eine erneute Verlängerung unvermeidlich erscheint, fällt doch noch die Entscheidung. Altrips Verteidiger Klüh köpft im eigenen Strafraum mit dem Hinterkopf nach hinten und damit genau dem lauernden Kunert vor die Füße. Der lässt sich zwei Minuten vor dem Ende die Chance nicht entgehen: 3:2! Viele denken in diesem Augenblick an Kunerts Worte vor dem Abflug von Tempelhof: "Wo ist der Koffer für die Trophäe? Kein Vertrauen diese Leute."
Peter Hanisch erhält den Pott als Kapitän zuerst überreicht. Selten hat man den Regisseur so strahlen gesehen. Selbst Bundestrainer Helmut Schön lässt es sich nicht entgehen, den jungen Burschen zu gratulieren. Ihm imponiert vor allem die Kampfkraft und Kameradschaft der Zehlendorfer. Den "Kicker" beeindruckt dagegen die sportliche Haltung der Berliner Mannschaft: "Sie zeigten sich nach Spielende als wahre Sportsleute, als sie trotz aller Siegesfreude ihren Gegner nicht vergaßen und zu trösten suchten, so gut es ging."
Etwas Wehmut liegt an diesem Abend in der Luft, die Betreuer Hasso Wellnitz mit folgenden Worten in den Clubnachrichten zusammenfasst: "Es hat mir Spaß gemacht, mit dieser duften Truppe zusammen gewesen zu sein. Bedauerlich, dass diese Mannschaft, die Deutscher Juniorenmeister geworden ist, nie wieder zusammenspielen wird."
Peter Hanisch und Norbert Stoltenberg gelingt wenige Wochen später nicht nur der Sprung in die Regionalliga-Mannschaft der "kleinen" Hertha, ihr Weg führt sie schließlich bis in die Erste Bundesliga. Hanisch spielt für Hertha BSC und Tennis-Borussia, "Stolle" ebenfalls für TeBe, Eintracht Braunschweig und den MSV Duisburg. "Pimpel" Winter wechselt 1974 zum VfL Wolfsburg, der zu dieser Zeit zwischen der 2. Bundesliga und der Regionalliga pendel, und bleibt bis 1981.
Bis heute hat der Mannschaftsgeist der Jungen von damals überlebt, die Kontakte rissen über 50 Jahre nie ab...
Sonntag, 12. Juli 1970
FC Hertha 03 Zehlendorf - TuS Altrip 3:2 (1:2)
Hertha 03: Hartfiel; Ludwig, Kullack (ab 69. Biermann), Bertz (ab 58. Boehnke), Rieger, Hochheim, Winter, Hanisch, Stolzenburg, Pfisterer, Kunert
Die Tore: 0:1 Böhm (7.), 0:2 Böhm (18.), 1:2 Kunert (23.), 2:2 Stolzenburg (42.), 3:2 Kunert (78.)
Zuschauer: 7.000 im Bochumer Stadion an der Castroper Straße
Schiedsrichter: Dr. Gerd Siepe
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