F.C. Hertha 03 Zehlendorf

F.C. Hertha 03 Zehlendorf

30.07.2023 / 1. Herren

Ausgerechnet Elfmeter

Verjüngte „kleine“ Hertha dreht Partie in Wismar – Stein trifft doppelt beim verdienten 2:1-Sieg

Der Beobachter der Partie konnte es schon ahnen: „Sitzt der, dann gewinnen die Zehlendorfer noch.“ Gemeint war in der 71. Spielminute der Strafstoß, den Schiedsrichter Toni Bauer nach einem Foul an Eric Stiller für die „kleine“ Hertha gegeben hatte. Kapitän Lenny Stein, gerade erst von einer anstrengenden Fußball-Reise mit der deutschen Polizei-Nationalmannschaft aus dem Ausland zurückgekehrt, bewahrte die Nerven und glich den 0:1-Rückstand aus. Wenig später trat genau das ein, was einem das Bauchgefühl bereits vermittelt hatte.

Saisonauftakt, es ist jedes Jahr das identische Spiel und doch war es an diesem frühen Sonnabendnachmittag etwas anders. Deutlicher als sonst fiel der Umbruch im Kader der Zehlendorfer aus, und wenn die ersten Eindrücke nicht täuschen, haben ihnen die Veränderungen gut getan. Mit Ismail Ceesay, Sven Reimann, Furkan Yildirim und Albert Millgramm hatte Trainer Robert Schröder vier Neuzugänge in seine Startformation berufen, im Laufe der Partie folgten mit Frank Zille und Marc Enke noch zwei weitere Akteure. 

Es dauert exakt 97 Sekunden, da lag der Ball das erste Mal im Gehäuse der Berliner, Wismars Patrick Nehls hatte per Abstauber getroffen. Doch zum Glück für die Gäste hatte sich der Schütze in Abseitsposition befunden. Es deutete sich bereits an, dass der frische Aufsteiger in die Oberliga Nordost keinesfalls gewillt war, sich nur zu verstecken. Esteves Lima verfehlte nach 5 Minuten mit einem Kopfball nur knapp das Gehäuse von Jasper Kühn, der den Vorzug vor Neuzugang Nash-Daniel Amankona erhalten hatte. Nach einer Viertelstunde aber fingen sich die Berliner und nahmen das Zepter fest in ihre Hände. 

Albert Millgramm, Zwillingsbruder Luis nahm zunächst auf der Bank Platz, schickte Cenker Yoldas auf die Reise, doch der hatte offensichtlich auf dem Weg zum Tor zu viel Zeit, sich Gedanken zu machen, rechts flog die Kugel vorbei (18.). In dieser Szene deutete sich schon an, welch spielerisches Potenzial in der neuen Zehlendorfer Mannschaft schlummert – und welch positive Überraschung der kleine Dribbelkönig A. Millgramm, in dieser Saison werden könnte. Wobei „Überraschung“ nicht ganz stimmt: Sein technisches Vermögen konnte bereits jeder erkennen, der ihn in den vergangen Jahren beobachtet hatte. Hier werden die Berliner Zuschauer vermutlich ebenso viel Freude haben, wie an seinem Zwillingsbruder Luis, der schon gegen Ende der vergangenen Spielzeit andeutete, was in ihm steckt. Doch die beiden blieben bescheiden: „Männerfußball ist schon was anderes, die Qualität ist einfach höher.“ Aber über eine ihrer Stärken freuten sie sich doch: „Es macht einfach Spaß, seine Schnelligkeit und Beweglichkeit auszunutzen.“

Dann geschah genau das, was sich Trainer Schröder in seiner Analyse nach Spielschluss unbedingt verkneifen wollte, nämlich zu erwähnen, dass sein Team ein altes Problem in die neue Spielzeit „hinübergerettet“ hat: den ungeheuren Chancenwucher! „Das ging einem natürlich durch den Kopf“ gab Stein ehrlich zu. Was die „kleine“ Hertha an Möglichkeiten ausließ, ging schon nicht mehr auf die altbekannte „Kuhhaut“. Doch wie sich die Berliner die Gelegenheiten, erst recht später gegen einen tief stehenden Gegner, erspielten, machte Freude. Und zum einzigen Minuspunkt am gestrigen Tag sei gesagt: Das Team ist mit 21,6 Jahren vermutlich das jüngste der Liga. Ein wenig Abgebrühtheit vor dem Kasten kann sich mit zunehmender Reife durchaus noch einstellen, da sollte die Flinte nicht vorzeitig ins Korn geworfen werden.

Zunächst aber einmal verlief es so, wie vor Jahresfrist sooft: Ausgelassene Chancen rächen sich. So traf Wismars Nico Billep nach zu kurzer Kopfballabwehr der Zehlendorfer mit einem Volleyschuss aus gut 20 Metern zur überraschenden Führung (29.). So ärgerlich für die „kleine“ Hertha, so schön war für die heimischen Zuschauer der Knallbonbon anzuschauen, Kühn blieb keine Abwehrmöglichkeit. „Wir haben nur kurz die Schultern hängenlassen“ sah Zeidler sein Team nur für einen Moment geschockt. 

Gut eine Stunde vor Spielbeginn tobte ein Gewitter über dem Stadion, sturzflutartig wurde der Rasen unter Wasser gesetzt. „Die Bedingungen mit vielen Pfützen waren eher suboptimal“ fand auch Albert Millgramm. Daher verwunderte es schon, dass mit Stein erst in der 42. Minute ein Akteur den Versuch unternahm, es auf dem nassen, den Ball schnell machenden Boden aus der Distanz zu probieren. 

Nach dem Wechsel nahm die Zehlendorfer Überlegenheit noch zu, die Gastgeber wurden förmlich in die eigene Hälfte gedrängt. „Wir kamen wirklich gut aus der Kabine“ fand auch Stein. Hilfreich war da, dass die Berliner in der Balleroberung noch eine Schippe drauflegten. Was Eric Stiller, später auch Arthur Langhammer, Oskar Praus, Sören Zeidler und Stein frühzeitig „abgrasten“, ließ dem Aufsteiger in weiten Teilen kaum Luft zum Atmen. „Da mussten wir aufpassen, dass wir nicht zu weit aufmachen“ erkannte Stein in dieser Phase das Risiko, sich einen Konter zu „fangen“. Doch so häuften sich auch die Chancen: A. Millgramm (54.) und L. Millgramm (58.) scheiterten aussichtsreich. Doch im Anschluss an eine Ecke schienen die Bemühungen von Erfolg gekrönt: Sven Reimann hatte per Kopf getroffen, der Ausgleich war unausweichlich. Doch Schieds- und Linienrichter waren sich zu 100% sicher, eindeutig kein Tor. Wie man sich zu 100% sicher sein kann, wenn man zu 100% falsch liegt, wissen nur die beiden Herren selbst, denn Fotoaufnahmen belegen eindeutig: Der Ball war klar und nicht etwa knapp hinter der Linie. Trainer Schröder bekam für diesen Hinweis gelb, was die Leistung des ansonsten gut leitenden Schiedsrichter Bauer durchaus schmälerte. Ein Hinweis sei hierzu erlaubt: Natürlich ist es eine unglaublich schwierige Aufgabe in Sekundenbruchteilen entscheiden zu müssen, ohne technische Hilfsmittel. Doch eine relativierte Aussage, wie zum Beispiel: „Aus meinem Blickwinkel sah es so aus, als wäre der Ball nicht im Tor gewesen“ hätte viel an Emotionen herausgenommen. 

Munter ging es mit dem Chancenwucher weiter: Marius Ihbe (67. + 77.), Yoldas (72.), L. Millgramm (76.) scheiterten allesamt, wobei einige Möglichkeiten der Kategorie „100-Prozenter“ zuzuordnen waren. „Vor dem Tor waren wir noch nicht kalt genug“, erkannte Zeidler richtig. Stiller sah es nicht so negativ: „Mir ist es lieber, wir erspielen uns so viele Chancen, als wenn uns die Kreativität oder der Wille fehlen würde.“ Dennoch mutete es schon grotesk an, dass ausgerechnet ein (berechtigter) Elfmeter zum Ausgleich führte (71.). Stiller hatte im Wismarer Strafraum nachgesetzt, den Ball erobert, um im nächsten Moment „gefällt“ zu werden. Hier zögerte Bauer keine Sekunde. Und dann kam es, wie in der Einleitung beschrieben. Steins Ausgleich gab den Zehlendorfern Auftrieb, den Gastgebern ging etwas die Puste aus. 

Und wieder war es Stiller, der die Entscheidung einleitete. Erneut konnte er im Strafraum nur unsanft gebremst werden. „Es waren beides klare Elfmeter“, versicherte Stiller später. Stein wählte dieses Mal die andere Ecke (rechts) und traf zum 2:1 (82.). „An so einem Tag, wo der Ball einfach nicht ins Tor will, benötigt man eben die Elfmeter“, sagte Stiller. Der Sieg schien angesichts der Zehlendorfer Überlegenheit im „Sack“ als Torhüter Kühn noch für einen Herzinfarkt-Moment sorgte. Eine harmlose Flanke segelte in seinen Strafraum und man wollte sich schon beruhigt abwenden, als der Ball nicht etwa auf dem Boden auftippte und ihm in die fangbereiten Arme flog, sondern in einer Pfütze liegenblieb und Hannes Köhn den Ausgleich auf dem Tablett servierte. Doch der Fußballgott hatte sich in diesem Augenblick auf die Berliner Seite geschlagen, Köhns Versuch ging ans Außennetz (89.), wenig später war Schluss. „Das war für Jasper schwer einzuschätzen“ erklärte L. Millgramm und Kühn gab zu, dass er damit „überhaupt nicht gerechnet hatte.“

Trainer Schröder zog folgendes Fazit: „Ich bin froh dass wir bei einem Aufsteiger, der immer mit sehr viel Euphorie kommt, gewonnen haben. Das ist immer ein schwerer und undankbarer Start. Wir haben über große Strecken das Spiel dominiert und uns auch durch den 0:1-Nackenschlag nicht aus dem Konzept bringen lassen. Wir haben uns viele Chancen erspielt und dass wir mit Lenny einen sicheren Elfmeterschützen haben, rundet das Ganze ab. Wenn wir mit dieser Spielfreude und Intensität weitermachen und nicht nachlassen, werden wir an dieser Mannschaft viel Freude haben, ohne dass wir das an Platzierungen festmachen wollen.“ 

Täuscht nicht alles, was gestern zu sehen war, hat der Umbruch zu keinem Qualitätsverlust der Mannschaft geführt. Sicherlich sind mit Stüwe, Obst und Dombrowe erfahrene Stützen verloren gegangen. Doch mit Reimann scheint ein Lenker bereits gefunden, Praus und Stiller sind in Punkto Zweikampfführung einen deutlichen Schritt weiter als vor Jahresfrist, Zeidler entwickelt sich zu einem resoluten Verteidiger mit Offensivpotenzial und die Millgramm-Zwillinge sind ohnehin eine Bereicherung. Wichtiger aber noch: Das Team funktionierte komplett als Einheit, drehte auswärts einen Rückstand bei einem hochmotivierten Aufsteiger und bewies Mentalität, Fitness und Nehmerqualitäten. So sah es auch Zeidler: „Wir haben wirklich durch Team- und Siegeswillen gewonnen.“ Am kommenden Sonntag gegen Regionalliga-Absteiger Lichtenberg 47 (14:00 Uhr, Ernst-Reuter-Stadion) folgt der zweite Härtetest. Spannend wird auch zu sehen sein, ob die Schröder-Schützlinge wieder auf die Unterstützung „ihrer“ Ultras zählen können. Gestern fehlten sie erstmals nach langer Zeit. Eine gute Kulisse dürfte dennoch zu erwarten sein. 

 

FC Anker Wismar - FC Hertha 03 1:2 (1:0)

HERTHA 03: Kühn; Stein, Praus, Zeidler; Stiller, Yoldas, Reimann (74. Langhammer), Yildirim (56. L. Millgramm), A. Millgramm (89. Didoss); Ihbe (89. Enke), Ceesay (74. Zille)

z.Z.: 276

TORE: 1:0 Billep (29.) , 1:1 Stein (71., Foulelfmeter), 1:2 Stein (82., Foulelfmeter)

GELBE KARTEN: Stein, Stiller, Reimann

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